Stehende Ovationen für „Sternstunden“

„Messiah-Project“ in Stadtkirche: Beim festlichen Pfingstkonzert treffen Musik und Literatur aufeinander und bescheren großartiges Erlebnis

Lauterbacher Anzeiger: Stehende Ovationen für "Sternstunden"- 09.06.2022
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09.06.2022 - Lauterbacher Anzeiger

Stehende Ovationen für "Sternstunden"

„Messiah-Project“ in Stadtkirche: Beim festlichen Pfingstkonzert treffen Musik und Literatur aufeinander und bescheren großartiges Erlebnis

LAUTERBACH (eig). Wenn ein zweistündiges Konzertprogramm nur einen einzigen Titel umfasst, dann muss es sich schon um ein monumentales Meisterwerk handeln, das aufgeführt  wird. Das Oratorium „Messiah“ respektive „Der Messias“ von Georg Friedrich Händel erfüllt dieses Kriterium zweifelsohne. Das 1741 entstandene Werk des deutsch-britischen  Komponisten ist zugleich sein bekanntestes. Und speziell der Satz „Hallelujah“ am Schluss des zweiten der drei Teile hat es zu enormer Berühmtheit gebracht, in einem solchen Ausmaß  sogar, dass er zu Werbespots oder Sportveranstaltungen erklingt und der eigentliche Zusammenhang und die Herkunft der breiten Öffentlichkeit gar nicht mehr geläufig ist.

Das festliche Pfingstkonzert der diesjährigen 48. Lauterbacher Pfingstmusiktage, obendrein nach dreijähriger Zwangspause, mit nichts anderem als diesem Meilenstein der  Musikgeschichte auszufüllen, wäre trotz allem an sich allerdings nichts Besonderes gewesen. Doch der wunderbare Gesang durch den eigens für diesen Anlass gebildeten Chor der  Lauterbacher Pfingstmusiktage aus Sängerinnen und Sängern der Lauterbacher Kantorei und Gästen sowie des Ensembles Neumeyer Consort unter der Leitung von Prof. Felix Koch  war nicht der einzige Höhepunkt. Denn das Händelsche Oratorium wurde an diesem Abend mit einem anderen, zwar nicht musikalischen dafür aber literarischen, Meisterwerk  verbunden: „Sternstunden der Menschheit“. Der bekannte österreichische Schriftsteller Stefan Zweig stellte in zuletzt 14 Miniaturen entscheidende und dramatische Augenblicke der  Geschichte dar, in deren Mittelpunkt jeweils eine bedeutende historische Persönlichkeit steht. Eine seiner Geschichtsdarstellungen widmete Stefan Zweig auch Georg Friedrich Händel.  Denn für ihn gehörte die Art und Weise, wie „Messiah“ von diesem erdacht und niedergeschrieben wurde, eben zu diesen „Sternstunden der Menschheit“.

Das später so berühmte Oratorium verfasste Georg Friedrich Händel zu einem Zeitpunkt, als er in einer – wie man heute wohl sagen würde – beruflichen Krise steckte. Seine einst so  gefeierten italienischen Opern waren aus der Mode gekommen und fanden beim Londoner Publikum kaum noch Interesse. Vier Jahre zuvor hatte sein eigenes privates  Opernunternehmen im Bankrott geendet. Genau an diesem Punkt setzt die Handlung von Stefan Zweig in seiner mit „Georg Friedrich Händels Auferstehung“ betitelten historischen  Miniatur an. Diese berühmte Erzählung und das berühmte Musikwerk zusammenzubringen, stand im Mittelpunkt des festlichen Pfingstkonzerts.

Vom „Messiah“ gibt es mehrere Fassungen, da Georg Friedrich Händel seine Schöpfung selbst im Lauf der Zeit, immer dem jeweiligen aktuellen Anlass angepasst, modifizierte und  veränderte. Für das Konzert in der Lauterbacher Stadtkirche hatte Felix Koch bewusst Teile aus dem ursprünglichen Werk von 1741 gewählt. Auf diese Weise ergab sich nämlich eine  perfekte Synthese mit den Ausführungen in Stefan Zweigs „Sternstunden“, welche Wolfgang Vater als Sprecher in ein- und ausdrucksvoller Weise rezitierte. Man glaubte fast, Georg  Fried rich Händel dabei über die Schulter zu schauen oder vielmehr er selbst zu sein, wie er in rastlosem Eifer innerhalb von nur drei Wochen sein monumentales Werk zu Papier  brachte und dabei mit seinen Gedanken rang.

„Endlich, nach drei knappen Wochen – unfassbar noch heute und für alle Ewigkeit! –, am 14. September, war das Werk beendet. Das Wort war Ton geworden, unverwelklich blühte  und klang, was eben noch trockne, dürre Rede gewesen. Das Wunder des Willens war vollbracht von der entzündeten Seele wie einst von dem gelähmten Leibe das Wunder der  Auferstehung. Alles war geschrieben, geschaffen, gestaltet, in Melodie und Aufschwung entfaltet – nur ein Wort fehlte noch, das Letzte des Werkes: ‚Amen’. Aber dieses ‚Amen’, diese  zwei knappen, raschen Silben, sie fasste Händel nun, um aus ihnen ein klingendes Stufenwerk bis in den Himmel zu bauen“, so zitierte Wolfgang Vater den österreichischen  Autor beim Eintauchen in die fiktive Gedankenwelt des Komponisten. Und wenn jeweils im Anschluss ein ausgewählter Abschnitt aus dem „Messiah“ vorgetragen wurde, ergab sich  tatsächlich der authentische Eindruck, dass Georg Friedrich Händel in seinem bekanntesten Werk zugleich seine Stimmungsschwankungen und seine Leidenschaft verarbeitet hat.  Hier wechselten sich der große Chor und als einzelne Vortragende Elisabeth Scholl (Sopran) und Samuel Kirsch (Bass) in großartiger Weise ab.

Eine besondere Zugabe war nach einem solchen wahrhaft monumentalen Musikgenuss verständlicherweise nicht notwendig – hob sich doch der große Chor den legendären  „Hallelujah“-Abschnitt für den Schlusspunkt auf. Insgesamt wurde die Aufführung einer „Sternstunde“ mehr als gerecht. Und dafür sprach auch die Kulisse: Eine bis hinauf auf die  oberste Empore fast voll besetzte Lauterbacher Stadtkirche – wann hat es das in den zurückliegenden drei Jahren zuletzt einmal gegeben? Mit stehenden Ovationen wurden die  Akteure für das beeindruckende Konzert minutenlang gefeiert.

Quelle: Lauterbacher Anzeiger, "Stehende Ovationen für Sternstunden", 09.06.2022

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